Mi, 08.03.2017 , 12:44 Uhr

Jugendkultur, Kunstform, Kriminaldelikt: Die vielfältigen Formen des Graffitis

Es gibt nur wenige so kontroverse künstlerische Ausdrucksformen wie Graffiti. Grund genug, einen genaueren Blick auf das zu werfen, was vom einen als Kunstwerk bewundert, vom anderen als Sachbeschädigung verteufelt wird.

Kunst und Können auf der einen, sachbeschädigende Schmiererei auf der anderen Seite. Keine Kunstform ist so ambivalent.

Man sieht sie in Dresden, in Leipzig, in Zwickau, Chemnitz und Bautzen – und auf jeder Autobahnbrücke, die diese Städte verbindet. Sie kommen in unterschiedlichen Formen. Mal als schnell hingemaltes Tag, mal als großflächiges, buntes Piece. Sie brechen tristgraue Betonwände ebenso auf, wie sie frisch gestrichene Hauswände verschandeln. Ihre Erzeuger haben fast immer Künstlernamen, werden wahlweise als Banksy auf internationalem Level gefeiert oder von Bahnpolizisten und Verkehrsbetrieben in einer nicht enden wollenden Sisyphusarbeit gejagt. Kaum eine Kunstform hat eine gleichzeitig so große Fangemeinde und engagierte Hasser wie Graffiti. Dabei fing alles harmlos an.

Von Ägypten ins New York der 70er

Graffiti ist beileibe kein neues und auch kein singulär-urbanes Phänomen. Im Gegenteil. Dass irgendwer irgendwo etwas hinmalt, was dort nicht hingehört, das gab es schon im alten Ägypten, als sich Unbekannte mit Kratzwerkzeugen verewigen. Doch obgleich es von Graffiti unzählige Stile gibt vom schnellen Spontispruch bis zum in stundenlanger Arbeit gefertigten Meisterwerk, hat das, was die meisten Menschen heute mit diesem Begriff assoziieren, das Stylewriting, seine Wurzeln im Amerika der ausgehenden 1960er Jahre.

Damals begann ein junger Mann in Philadelphia, sein Synonym Cornbread an Wände zu malen – um das andere Geschlecht zu beeindrucken. Was als jugendlicher Übermut begann, wurde bald zu waghalsigen Aktionen, um den Schriftzug an immer unmöglicheren Stellen zu platzieren – zuletzt auf einem Elefanten im städtischen Zoo.

Dieser Schriftzug nahm vorweg, was heute der Staatsmacht und vielen Privatleuten das meiste Kopfzerbrechen beschert, das sogenannte Tagging. Dabei wird, mit Stift oder Sprühdose, einfach ein Wort – auch heute meist Künstlername oder –abkürzung – irgendwo platziert. Im urbanen Kontext handelt es sich dabei um kaum mehr als eine Art Reviermarkierung. Ein Sprayer zeigt so, dass er dort war und alle anderen können es sehen.

Von Kannen und Fatcaps

Untrennbar verbunden ist die Geschichte des Graffitis mit der Entwicklung der Sprühdose. Diese war zwar seit den 50ern in amerikanischen Haushalten vertreten, doch es dauerte bis in die 70er, bis Farbdosen – im Sprayerjargon Kannen vom Englischen Can für Dose – nicht nur auf den Markt kamen, sondern auch mit wechselbaren Ventilköpfen ausgestattet werden konnten. Diese Caps ermöglichten es, Striche unterschiedlicher Stärken aufzubringen – das Masterpiece, also ein mehrfarbiges, großvolumiges Graffito, war geboren.

Mit dem Beginn der 1980er schwappte der Trend aus den US-Ostküstenstädten aufs restliche Land über und von dort auf Europa und die gesamte Welt. Befeuert wurde das Ganze noch durch Filme, in denen das Sprayen im Vordergrund stand. Binnen zehn Jahren hatte sich eine völlig neue Kunstform entwickelt.

Das Besondere daran war und ist, dass Graffiti seit damals untrennbar mit der ebenso urbanen Hip-Hop-Kultur zu einer Art „kultureller Vierfaltigkeit“ wurde, bestehend aus:

- Rap (dem Sprechgesang als solches)

- DJ-ing (das Mischen der nötigen Beats

- Breakdance

- Graffiti

Ein Gesamtkonzept für die Jugend. Einzigartig vor allem deshalb, weil es auf eine bislang ungekannte Art und Weise unterschiedliche (und ebenso neue) Künste miteinander verschmolz. Und interessant auch deshalb, weil Hip-Hop es den sich damit identifizierenden Personen erlaubt, wahlweise Teile oder alles aufzugreifen. Es gibt rappende Sprayer, es gibt Breakdancer, die auch als DJ hinterm Mischpult stehen. Ebenso gibt es aber Graffitikünstler, die mit den anderen drei Hip-Hop-Elementen gar nichts am Hut haben.

Somit kann man sagen, dass spätestens Anfang der 1980er alle Grundsteine des Graffitis so gelegt waren, wie sie auch heute existieren. Allerdings zog die Kunstform immer auch mit der technischen Entwicklung mit. Primär gilt das vor allem für Farben, aber auch Stile. Anfangs musste man nehmen, was der Autolackhandel an Möglichkeiten bot. Heute benutzen Sprayer speziell für diese Kunstform geschaffene Sprühdosen und Marker, die nicht nur durch eine wahrhaft gigantische Farbpalette für sich positiv werben, sondern häufig auch in für Normalsterbliche eher negativer Weise, dass sie sich nur extrem schlecht entfernen lassen und auch nach mehrfachem Übermalen noch durchscheinen. 

Sachbeschädigung und Ärgernis

Womit der Artikel auch bei der Hauptproblematik angelangt wäre. Denn von dem unfreiwillig beschrifteten Elefanten aus Philadelphia bis heute ist Graffiti in der Hauptsache und ungeachtet sämtlicher Meriten (auf die später noch eingegangen wird) für die meisten Menschen eine illegale Aktivität.

Doch in welcher Form eigentlich? Nun, hier ist das strafrechtliche Basislevel die Sachbeschädigung – überraschender Weise aber erst seit 2006. Allerdings kommen meist noch Haus- und Landfriedensbrüche hinzu. Graffitikünstler, die sich dem Bemalen von U-, S-, und Eisenbahnzügen verschrieben haben, werden meist auch mit dem Schwert des gefährlichen Eingriffs in den Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr belangt.

Allerdings sind nicht mal die großen Kunstwerke das Problem – die werden alleine schon deshalb seltener, weil die Aufmerksamkeit samt polizeilicher Überwachung und Reaktionszeit sich enorm verbessert hat. Was wirklich Ärger bereitet und Graffiti in Verruf bringt, sind Tags. Man gehe durch eine beliebige Straße in Sachens Graffiti-Hauptstadt – das muss beileibe nicht die berüchtigte Eisenbahnstraße sein – überall wird man Tags sehen. Zehntausende Euro kostet deren Entfernung alljährlich.

 

Es sind vor allem schlechte Tags wie diese, die für den breitgesellschaftlich eher schlechten Ruf von Graffiti verantwortlich sind.

Zuckerbrot und Peitsche

Dabei zeigt sich immer wieder, dass bei Graffiti die gleichen Schemata zur Abschreckung von Vandalismus funktionieren, wie bei anderen Sachbeschädigungen:

- Sofortiges Entfernen, sodass der Sprayer keine Chance hat, lange stolz auf sein Piece zu sein

- Anstreichen von Fassaden mit farbresistenten Grundierungen, die Entfernen erleichtern

- Vermeiden von einfarbigen Wänden, sei es durch Bewuchs oder attraktivere Gestaltung

Hier zeigt sich die hässliche Seite des Graffitis. Denn Tags und Sprühbilder an der Wand stehen in vielen Köpfen für soziale Brennpunkte, Verwahrlosung und werden nicht nur von Stadtplanern auch direkt mit der Broken-Window-Theorie in Zusammenhang gebracht.

Allerdings muss bei aller Graffitikritik auch Gegenkritik erlaubt sein. Gerade in Städten wurden viele Bausünden begangen, die es durch großflächige Betonwände und von der Architekturszene künstlich hochgelobter Tristesse geradezu herausfordern, mit Farbe Abhilfe zu schaffen. Und dass ein gut gemachtes Graffiti besser aussieht, als eine nackte Betonwand, werden viele bestätigen.

Doch, und hier unterscheidet sich Graffiti von allen anderen Formen des Vandalismus, es benötigt nur freie Flächen. Gerade deshalb zeigte und zeigt sich immer wieder, dass es viel hilft, jugendlichen Gelegenheitssprayern aber auch gesetzteren Routiniers solche Flächen zur Verfügung zu stellen, um das Grundproblem des wilden Sprayens zu bekämpfen. In Dresden wurden so sechs Areale eingerichtet, die laut Stadtverwaltung sehr gut von der Szene angenommen werden.

Natürlich werden solche Freiflächen nicht von jedem Sprayer bevorzugt, schließlich gibt es auch einen gewissen Prozentsatz, bei denen die Sachbeschädigung im Fokus steht und nicht die Kunstform. Hier muss man nur an die Klientel denken, die durch mit Flusssäure gefüllte Marker oder entsprechende Kratzaufsätze ihre Schriftzüge in die Scheiben öffentlicher Verkehrsmittel einbringen. Aber im Großen und Ganzen helfen Flächen definitiv, um dem Problem Herr zu werden.

Legales Potenzial für große Kunst

Mit Graffiti ist es nicht anders als bei anderen Kunstformen. Es gibt eine große Masse derer, die es halbwegs beherrschen. Daneben stechen auch echte Könner hervor – an diesem Punkt kommt bei Graffiti die Kunst tatsächlich vom Können, denn des braucht schon viel Vorstellungsvermögen und Fingerfertigkeit, um sich die teilweise mehrere Meter hohen und breiten Motive nicht nur auszudenken, sondern auch umzusetzen.

Gerade legale Areale sind dabei immer Beweis dafür, dass es unter Graffitisprayern so manche gibt, die das Prädikat Künstler ebenso verdient haben, wie jemand, der Plastiken fertigt oder abstrakte Gemälde auf Leinwand bannt.

Urbanisierung drückt im Graffiti den Wunsch nach optischen Reizen aus – statt architektonisch gern bevorzugter Betonflächen.

Auch hier bietet sich ein weiterer Vorteil für die sprühdosenbewerte Form der Malerei: Der Untergrund ist völlig egal. Nur halbwegs glatt sollte er sein – den Rest übernimmt das leuchtstarke Erzeugnis der farbchemischen Industrie. Hier zeigen sich die Sonnenseiten der Entwicklung dedizierter Sprayerfarben. Diesen Vorteil haben viele Stadtväter und Unternehmer bereits erkannt. Und auch die Tatsache, dass es bei vielen (wenn auch nicht allen) Graffitikünstlern eine Art Ehrenkodex gibt, der es untersagt, Bilder zu crossen (übermalen), die besser als das eigene sind.

So entstehen mittlerweile auf vielen Flächen, die durch ihre Abmessungen und Farbe Gefahr laufen, schon nach Stunden mit Tags beschmiert zu sein, legale Sprayerkunstwerke, die gleichzeitig Farbe in die urbane Tristesse bringen und verhindern, dass sich das Sprayer-Prekariat unkontrolliert austobt.

Auf Augenhöhe in die Vernissage und darüber hinaus

Wer bis hierhin eingesehen hat, dass Graffiti zwar hässliche Schmiererei sein kann, aber eben auch eine Form der urbanen Kunst, der wird auch zumindest Sympathien dafür entwickeln können, dass die Kunstform mittlerweile in den Galerien angekommen ist. Ein Beispiel dafür ist die Chemnitzer Hallenkunst, die schon Anfang dieses Jahrzehnts fest zum sächsischen Kulturkalender dazugehörte und namhafte Sprayer aus aller Welt anlockte.

Und es geht weiter in die Bundeskunsthalle in Bonn, die unter dem Motto Bundeskunsthall of Fame ebenfalls bereits die Sprühdosen in ihren Räumlichkeiten willkommen hieß. Doch auch damit ist noch nicht Schluss, denn in Berlin entsteht gerade das Museum für Urban Contemporary Art – das erste seiner Art der Bundesrepublik. Fester Bestandteil wird auch hier Graffiti sein. Und dass das Karlsruher Institut für Technologie mittlerweile die besten legalen und illegalen Graffiti Deutschlands in einer Datenbank katalogisiert, dürfte keinen mehr verwundern.

Fazit

Graffiti ist vielleicht die einzige Kunstform, in der die Ausübenden ebenso von der Polizei wie von millionenschweren Auftraggebern gesucht werden. Es ist im Vergleich eine junge Kunstform mit vielen pubertären Ärgernissen, die seinen Ruf gründlich ramponieren. Doch die Wurzeln auf dem Weg zur breitgesellschaftlichen Akzeptanz sind gelegt – und der Rest lässt sich dank farbfester Wanduntergründe und mehr Kameras in den Griff bekommen.

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