Mo, 09.01.2017 , 14:21 Uhr

SPANNUNG, SPASS UND SPIEL? ERZIEHUNG UND KINDHEIT IM WANDEL DER ZEIT

Kinder und Spiel – das ist untrennbar miteinander verbunden. Auch früher haben Kinder schon gespielt, wenn auch ganz anders. Wie wirkt sich dieser Unterschied aus? Ein Plädoyer für mehr Freiheit.

Kinder spielen – das war schon immer so und wird auch immer so sein. Durch das Spiel lernen Kinder, das Gehirn baut Verknüpfungen auf und bereitet so auf das echte Leben vor. Sozialisierung, Beschäftigung und Spaß werden dadurch abgedeckt, gewisse Fähigkeiten gefordert und gefördert. Bis zum vollendeten sechsten Lebensjahr müssen Kinder ca. 15.000 Stunden gespielt haben, um entwicklungsphysiologisch fit für weitere Bildung in der Schule zu sein: Das zeigt, welch hohen Stellenwert das Spiel im Kinderleben hat. Auch die Marktsituation spiegelt das wider und bietet unendlich viele Spielzeuge für Kinder feil. Aber wie viel ist genug und was war eigentlich früher, als es all das nicht gab? Ein Vergleich.

Karamell und Karussell

Das Spiel gehörte zwar schon immer zum Kind sein dazu, hat sich aber doch im Laufe der Zeit so sehr verändert. Während früher „Draußen“ der größte Spielplatz war und zierliche Spielfigürchen und aus Holz geschnitzte Archen, wie sie im Spielzeugmuseum in Seiffen im Erzgebirge gezeigt werden, eine Seltenheit waren, sind heute Gameboy und Handy bereits bei den meisten 8-Jährigen feste Begleiter. Einfach rausgehen zum Spielen? Dafür gibt es doch Online Games. Spielen im Wald? Da sind Schlamm und Dreck und es kann so viel passieren. Spielerei hat sich verändert und damit auch die Kindheit, die Entwicklung und die Kinder selbst.

Das Karussell am Jahrmarkt war der größte Spaß, das Karamell, das vom eigenen Geld gekauft werden konnte, der größte Schatz. Irgendeins der Nachbarskinder hatte immer Zeit, um Fußball zu spielen oder am Baumhaus weiter zu bauen. Das hat sich verändert. Heute müssen bereits kleine Kinder zur Therapie – Logopädie, Ergotherapie, Psychotherapie – oder zur Frühförderung. Große Kinder müssen lernen und zur Nachhilfe, da sonst der Sprung aufs Gymnasium womöglich nicht klappt. Ein anderer hat Hausarrest, weil die Note in der Deutschklausur nicht dem Standard der Eltern standhält. Wer ist also da, wenn ein Kind raus will und draußen spielen möchte, wie die Großeltern es noch taten?

Mal Pech haben und Probleme lösen

Das Problem sitzt aber tiefer, denn diese Auswüchse sind nur Symptome einer Krankheit, die sich „Helikopter-Eltern“ nennt. Kinder bekommen nicht mehr was sie brauchen, sondern nur noch was sie wollen. Streitigkeiten mit Schulkameraden? Werden von den Eltern mit einem Anruf bei der Mutter des Störenfrieds erledigt. Ein aktives Kind, das nicht gerne still sitzt und sich nicht konzentrieren mag? Das muss ADHS haben. Ritalin ist ein Volksmedikament geworden, weil der Bewegungsdrang der Kinder nicht gestillt wird. Früher wurden sie einfach rausgeschickt, sollten toben und spielen und sich müde laufen. Heute sitzen Kinder vor dem Fernseher und es wird verwundert über Fettleibigkeit geschrieben. Ein neuer Therapieansatz und Grund für ein neues Projekt: Das Kind muss Abnehmen. Andere klagen über Kopfschmerzen, weil die Schule und die Vorstellungen der Eltern Druck aufbauen, der in keiner Freizeitbeschäftigung abgebaut werden kann.

Kinder werden zum Projekt gemacht, zur heimlichen Verwirklichung der elterlichen Wünsche. Da, wo früher Erziehung stattfand, muss heute eine enge Beziehung bestehen. Ein Kind, das drei Minuten schreit, bekommt vermutlich Verlustängste, wenn die Eltern es nicht beruhigen und schließlich doch bei sich im Bett schlafen lassen. Das Heilmittel? Konsequente Erziehung – und zwar in der Schule, wo das Kind Leistungen bringen muss um später studieren zu können. Aber wie soll ein Kind wählen, was es möchte und wissen, wo es hin will, wenn alle Vorstellungen und Entscheidungen immer von den Eltern kamen?

Entscheidungsfreude und Kreativität: Das sind Fähigkeiten, die das Gehirn eines Kindes nie wirklich stark entwickeln muss, wenn das Kind keine Probleme hat, die es alleine lösen muss. Das Gehirn ist ein Apparat zum Probleme lösen – wie könnte das besser ausgebildet werden, wenn nicht spielerisch? Langeweile, das Fehlen von Utensilien…wie heißt es so schön: „Not macht Erfinderisch.“ Natürlich sollen Kinder keinen echten Nöten ausgesetzt sein. Aber was sind schon echte Nöte? Streit mit dem Klassenkameraden, mal eine Fünf in Mathe oder der unerfüllte Wunsch nach der neusten Superman-Figur sind es jedenfalls nicht.

Auch mal alleine die Welt entdecken, Blumen probieren und die Hände im Dreck wühlen dürfen: Kinder entdecken die Welt vor allem durch kleine Abenteuer. Die Erfolge und Fehler, die sie selbst machen, bereichern ihren Erfahrungsschatz und erteilen Lektionen fürs Leben.

Bauklötze und Baumhaus bauen

Dieser Erfindungsreichtum kann dabei schon in frühester Kindheit ausgebildet werden. Und nein – das ist keine Frühförderung, vielmehr geht es darum, den Kindern das ursprüngliche Spielen wieder näher zu bringen und ihnen damit ihre Kreativität wieder nahe zu bringen. Spielzeug, das in verschiedenen Situationen bespielbar ist und Kinder auch dazu anstiftet, kreativ zu werden, ist beispielsweise alles, was nicht komplett ist, wo etwas hinzugedacht und ergänzt werden muss. Die Kuh mit der eigenen Stimme muhen lassen und aus dem Holzklotz kurzerhand ein Pferd werden zu lassen – dieses Vorstellungsvermögen ist es, was Kinder auch später erfinderisch macht.

Auch der Bewegungsdrang der Kinder sind ein Punkt, dem Rechnung getragen werden muss. Dass auf einer vierspurigen Straße nicht einfach frei gespielt werden kann, ist klar. Aber auf einer verkehrsberuhigten Straße dürfen Kinder auch selbst ihren Straßenverkehr entwickeln, mit Kreide malen oder Gummitwist spielen. Zunächst mit einem Erwachsenen, der besonders am Anfang darauf aufpasst, dass die Kinder wissen, dass sie zur Seite gehen müssen wenn ein Auto kommt. Danach kommt das Vertrauen ins Spiel, das Eltern in ihre Kinder haben müssen.

Wer Angst hat vor der Welt da draußen, dass täglich so viele Unfälle passieren, Kinder verschwinden und getötet werden, der darf beruhigt sein: Das war schon immer so, Eltern fürchten sich um ihre Kinder. Aber es ist nicht so, dass heute mehr Unfälle passieren oder gar mehr Kinder verschwinden – es wird lediglich anders darüber berichtet, jedes Schicksal wird in der Zeitung oder in den sozialen Medien aufgegriffen. Das macht besorgt, aber Gelassenheit ist in diesem Fall etwas, das die Eltern lernen müssen  - was sie sich von ihren Kindern beibringen lassen können.

Früher haben Kinder täglich auf Bäumen rumgeturnt, haben Baumhäuser gebaut und damit Erfolge gefeiert. Heute schreit wohl jeder „Komm da runter, du tust dir noch weh!“ und beim Hantieren mit rohem Holz wird sowieso schon schmerzverzerrt das Gesicht verzogen, weil Holzsplitter die kindlich weiche Haut so schnell durchdringen könnten. Aber ein Sturz vom Baum lehrt, sich besser festzuhalten, gegen Holzsplitter gibt es Pinzetten und Papas, die sie in mühevoller Kleinarbeit wieder raus operieren. Rostige Nägel werden mit Tetanus-Spritzen davon abgehalten, ernsthaften Schaden anzurichten. Die Zeiten, in den Kinder an Kleinigkeiten sterben mussten sind nämlich ebenfalls vorbei.

Langweile und vom Leben lernen

Wenn das Baumhaus nicht halten wollte, mussten sie wieder kreativ werden – und haben ganz nebenbei intuitiv die Regeln der Statik erlernt. Und wenn es regnete, mussten sie entweder durch das Regenwetter laufen und wurden „abgehärtet“ oder mussten sich mal Langweilen. Auch Langweile ist dabei eine wertvolle Erfahrung, in der das Kind darüber nachdenkt, was es als nächstes tun könnte, neue Beschäftigungen erfindet oder wieder entdeckt, wie viel Spaß das Spielzeug doch macht, das schon lange in der Ecke liegt.

All diese Dinge können Kindern nicht passieren, wenn die Eltern stetig wie Hubschrauber über ihnen hovern und aufpassen, dass ja nichts passiert. Dabei brauchen die Kinder das Vertrauen der Eltern, um Selbstvertrauen erlernen zu können. Sie müssen Misserfolge haben, um zu lernen, wie sie damit umgehen. Erfolge haben und wissen, dass sie sich diese selbst erarbeitet haben. Langweile haben, um selbst kreativ zu werden. Das sind wertvolle Lektionen der Kindheit, die Kinder zu den Menschen formen, die sie später sind, die sie zu Problemlösern werden lassen und damit über die Kindheit hinaus Kernkompetenzen vermitteln.

Das Baumhaus: Ein Traum vieler Kinder und vor allem dann ein echter Erfolg, wenn es selbst gebaut wurde. Den Kindern diese Erlebnisse aus Angst vor rostigen Nägeln und Holzsplittern zu verwehren, ist nicht fair. 


Dem sollten Eltern sich bewusst sein und damit auch für sich lernen, eher loszulassen, den Weg nicht komplett zu ebnen, das Kind auch mal in Ruhe zu lassen und ihm damit den Freiraum zu geben, selbst zu einem kompetenten jungen Menschen heranzuwachsen, der seine Probleme selbst löst, wo er kann, aber nicht auf sich alleine gestellt ist, wenn es brenzlig wird. Ein beliebtes Bild ist hier die „lange Leine“, an der Kinder die Welt erkunden können. Die Eltern sind immer da, wenn das Kind etwas braucht, ansonsten ist es aber auf sich gestellt. Das heißt auch, dass keine Einmischung erfolgt und das Kind das Vertrauen erlernen muss, zu den Eltern zu kommen, wenn es Probleme hat.

Der Erfolg dieses Konzepts wird auch klar, wenn die Eltern einen Blick zurück in ihre Kindheit werfen – denn oft sind sie es, die selbst Baumhäuser gebaut haben und mit Freunden auf der Wiese gespielt haben. Die Missgeschicke erlebt haben, die sie vor ihren Eltern verstecken wollten. Die sich nachts rausgeschlichen haben, obwohl sie es nicht durften. Die hin und wieder auch ein Problem alleine lösen mussten und welche Erfolge sie dadurch feiern konnten. Diese Erlebnisse – kleine Abenteuer -  den eigenen Kindern zu verwehren, wäre nicht fair.

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