Chemnitz- Stellen Sie sich einen Tanz vor, der Feuer, Sehnsucht und Herzschmerz in jeder Bewegung vereint. Ein Tanz, der Welten verbindet – Kulturen, Kontinente, Gefühle. Der Tango gilt vielen als Inbegriff südamerikanischer Leidenschaft. Doch seine Seele trägt auch Züge aus Sachsen. Ja, richtig gehört: Ohne eine Erfindung aus den Werkstätten Chemnitzer Tüftler hätte es der Tango vielleicht nie aus den Hafenkneipen von Buenos Aires in die Ballsäle der Welt geschafft.
König der Tänze wird er genannt. Feurig, leidenschaftlich kommt er daher und bringt südamerikanisches Flair auf jedes Tanzparkett – sofern die Vortragenden den Tango beherrschen. Dabei ist der Tango wohl der ernsteste und traurigste aller Standardtänze. Und wer jetzt die Nase rümpft, muss stark sein: Denn der Tango, wie wir ihn heute kennen, wäre ohne Hilfe aus Chemnitz wohl nie möglich geworden. Das hat – wie so vieles in der Kulturhauptstadt 2025 – mit dem industriellen Erbe der Stadt zu tun. Genauer gesagt: mit einem Klarinettisten namens Karl Friedrich Uhlig, der in der Strumpfwirkerei sein Brot verdiente. Ebenjener Uhlig war wohl das, was man im Kulturhauptstadtjahr in den Vordergrund stellen möchte – ein „Maker“. Auf einer Reise nach Wien stieß er auf eine chinesische Mundorgel. Zurück in Chemnitz setzte sich Karl Friedrich Uhlig an die Werkbank und entwarf mit dem Wissen aus Österreich sein eigenes Instrument.
Das Modell von Karl Friedrich Uhlig wurde von vielen Instrumentenbauern in der Region aufgegriffen. So entstanden – leicht abgewandelt – zigtausende Musikinstrumente, die unter dem Namen Bandoneon bekannt wurden. Allerdings zunächst nur in Sachsen. Der Vorteil der neuen Kreation war ihre einfache Bedienung und Erlernbarkeit – perfekte Bedingungen für die Arbeiterinnen und Arbeiter der damaligen Zeit. Und dort, in Sachsen, wäre das Bandoneon wohl auch geblieben, hätte es nicht eine große Fluchtwelle von Deutschen nach Südamerika gegeben. Damals wie heute konnten die Erwartungen der Flüchtenden oft nicht mit der Realität mithalten. In Südamerika angekommen, warteten nur selten lukrative Jobs auf die meist männlichen europäischen Migranten. In ihrer Hoffnungslosigkeit – und mit viel Zeit ausgestattet – entwickelte sich so der Tanz der Tänze.
Das erklärt auch, warum der Tango mitunter als melancholisch wahrgenommen wird. Frust und Enttäuschung prägten bei seiner Entstehung den König aller Tänze. Wenn Sie das nächste Mal im Zweivierteltakt das Tanzbein schwingen, ist im Prinzip der Freistaat auf dem Parkett zugegen. Denn der leidenschaftliche Tanz aus Südamerika hätte ohne die sächsischen Instrumentenbauer seinen Siegeszug durch die Tanzschulen der Welt vermutlich niemals antreten können.