Chemnitz- Was geschieht, wenn die Wahrheit zu spät kommt – oder nie ganz ans Licht? Wenn Ermittlungen in die Irre führen, Medien falsche Bilder zeichnen und Betroffene über Jahrzehnte auf Gehör warten müssen? Die Liste der Ungereimtheiten im sogenannten NSU-Komplex ist lang. Ein Dokumentationszentrum in Chemnitz setzt dort an, wo lange weggeschaut wurde: Es stellt die Geschichten der Überlebenden und Angehörigen in den Mittelpunkt – und will sichtbar machen, was bisher oft übersehen wurde.
Im November 2011 endete mit dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt eine Mordserie, die Deutschland über mehr als zehn Jahre in Atem hielt. Die Selbstenttarnung der rechtsextremen Terrorzelle NSU beschäftigt bis heute Untersuchungsausschüsse. Trotz eines umfangreichen Strafprozesses sind viele Fragen nach wie vor offen – Fakten, die die Angehörigen der Opfer des rechten Terrors bis heute bewegen. Unter dem Titel „Offener Prozess“ wurde in Chemnitz ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex eröffnet. Es stellt die Betroffenen und ihre Perspektiven in den Mittelpunkt – zum Beispiel die von Serkan Yildirim. Er war das erste bekannte Opfer des NSU-Trios. Die Tat, die sein Leben veränderte, begann am 23. Juni 1999 mit dem Fund einer Taschenlampe im eigenen Laden. Diese war eine Sprengfalle, platziert vom NSU. Yildirim wurde durch die Detonation zwar verletzt, überlebte das Attentat jedoch – im Gegensatz zu vielen späteren Opfern. Seine Geschichte wurde erst im Jahr 2013 im Zuge des NSU-Prozesses bekannt. Brisantes Detail: Es handelt sich um das erste bekannte Opfer der rechtsextremen Terrorzelle.
Vor fast genau 26 Jahren hätten die ermittelnden Beamten die Chance gehabt, die Terrorserie zu stoppen, noch bevor sie überhaupt begann. Doch offenbar war – trotz der Brandanschläge von Mölln und Solingen – in den Ermittlungsbüros ein rechtsextremes Tatmotiv kaum vorstellbar. Selbst beim ersten Todesopfer spielte ein politischer Hintergrund als Tatmotiv augenscheinlich keine Rolle. Stattdessen prägten die damaligen Theorien der Ermittler die spätere mediale Berichterstattung – es war die Rede von sogenannten „Dönermorden“, die Täter wurden im Umfeld der organisierten Kriminalität oder sogar innerhalb der Familien der Opfer vermutet. Diese irreführenden Narrative fanden sich in großen Lettern auf den Titelseiten – Fake News, gestreut durch klassische Medien.
So mussten die Angehörigen nicht nur mit dem gewaltsamen Verlust eines geliebten Menschen leben – sie sahen sich zusätzlich Verleumdungen und Verdächtigungen ausgesetzt. Eine kaum bekannte Perspektive, die das NSU-Dokumentationszentrum in Chemnitz nun sichtbar machen möchte. Denn im Mittelpunkt steht dort nicht die Geschichte der Täter, sondern die der Opfer und ihrer Familien. So auch die von Lina und Mandy Boulgarides. Ihr Vater wurde kaltblütig hinter dem Tresen seines Ladens erschossen. Die Schwestern mussten schon als Kinder nicht nur den Mord an ihrem Vater verkraften, sondern auch die massiven Diffamierungen, die durch eine voreingenommene Berichterstattung befeuert wurden. Schlagzeilen, die das Leben der Hinterbliebenen bis ins Mark erschütterten und vollkommen aus der Bahn warfen: Die Familie zerbrach, Arbeitgeber wandten sich ab, das Geld wurde knapp – letztlich musste sogar der Wohnsitz verkauft werden.
Das Dokumentationszentrum greift diese Aspekte auf und weist auch auf zahlreiche Ungereimtheiten im Fall hin. So will ein Geheimdienstmitarbeiter einen Mord nicht bemerkt haben – obwohl er sich zur Tatzeit am Tatort aufgehalten hatte. Von geschredderten Akten ganz zu schweigen. Und es legt den Fokus nebenbei auf eine Berichterstattung, die viele journalistische Standards in dem Fall außen vor ließ. Ein wichtiger Prozess – auch für die Angehörigen der Mordopfer. Das neu geschaffene Dokumentationszentrum gilt als Pilotprojekt. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sollen auch in den Aufbau weiterer Standorte einfließen. Die Finanzierung ist bis einschließlich 2025 gesichert. Land und Bund streben jedoch eine langfristige Sicherung des Standorts Chemnitz an.