Mi., 17.12.2025 , 15:54 Uhr

Solidarität oder Zweckentfremdung? Warum Krankenkassen den Staat verklagen

Sachsen- Aus Sicht der Krankenkassen kommt der Staat seiner finanziellen Verantwortung seit Jahren nicht ausreichend nach. Stattdessen zahlen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie ihre Arbeitgeber über die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung Milliardenbeträge mit.

Zehn Milliarden Euro – Jahr für Jahr. Geld, das nach Auffassung der Krankenkassen nicht aus Beitragsmitteln, sondern aus Steuergeldern finanziert werden müsste. Wie groß die Lücke ist, zeigt ein Blick auf die konkreten Zahlen. Der Staat zahlt derzeit für einen Versicherten mit Bürgergeld Bezug rund 133 Euro im Monat. Auskömmlich wären nach Berechnungen der Kassen jedoch etwa 300 Euro. Die Differenz bleibt bei den Krankenkassen hängen – und damit bei ihren Mitgliedern. Hochgerechnet ergibt sich so eine milliardenschwere Unterfinanzierung, die nach Ansicht der Kassen zunehmend das gesamte System belastet.

Jetzt ziehen die Krankenkassen die Reißleine. Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung hat beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Klage gegen den Bund eingereicht. Weitere Klagen sollen folgen. Ziel ist eine höchstrichterliche Entscheidung in einem Streit, der seit über einem Jahrzehnt schwelt. Auslöser sind neue Bescheide des Bundesamts für Soziale Sicherung, aus denen hervorgeht, dass auch im Jahr 2026 keine vollständige Finanzierung der Bürgergeldbeiträge vorgesehen ist. Dabei geht es längst nicht mehr nur um Geld, sondern um Grundsatzfragen. Die Krankenkassen sehen in der aktuellen Praxis einen Verstoß gegen die Zweckbindung der Beiträge.

Die Versorgung von Menschen mit Bürgergeld sei eine ureigene staatliche Aufgabe. Diese müsse aus Steuermitteln finanziert werden – nicht über Beiträge der gesetzlich Versicherten. Der Bund verweist hingegen auf das Solidarprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung. Bürgergeldempfänger sind Pflichtmitglieder, ihre Versorgung Teil des Systems. Eine vollständige Steuerfinanzierung würde den Bundeshaushalt zusätzlich belasten – in Zeiten ohnehin angespannter öffentlicher Finanzen. Ein klassischer Zielkonflikt zwischen Haushaltsdisziplin und Beitragssatzstabilität.

 

Besonders kritisch sehen die Krankenkassen die soziale Schieflage innerhalb des Systems. Die Finanzierung dieser sogenannten versicherungsfremden Leistungen erfolge ausschließlich innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung. Privatversicherte beteiligten sich daran nicht. Paradox sei zudem, dass der Staat die Gesundheitskosten vollständig übernimmt, wenn ein Bürgergeldempfänger zuvor privat versichert war – während die gesetzlichen Kassen nur einen Bruchteil der tatsächlichen Kosten erstattet bekommen. Nach eigenen Angaben haben die Krankenkassen jahrelang versucht, das Problem politisch zu lösen. Immer wieder habe es Gespräche mit dem Bund gegeben, immer wieder Zusagen, für Abhilfe zu sorgen. „Dies ist aber bisher nicht eingetreten“, so Ziem.

Die Klage sei deshalb der letzte Schritt – nicht aus Konfrontationslust, sondern aus Frustration über ausbleibende politische Lösungen. Was auf dem Spiel steht, ist erheblich. Sollten die Gerichte den Krankenkassen Recht geben, müsste der Bund Milliardenbeträge zusätzlich aus Steuermitteln aufbringen. Für Versicherte und Arbeitgeber könnten die Beiträge stabil bleiben – möglicherweise sogar sinken. Verlieren die Krankenkassen, dürfte der Druck auf die Beiträge weiter steigen. Der Streit um die Bürgergeldbeiträge ist damit mehr als ein juristisches Verfahren. Er ist ein Grundsatzkonflikt darüber, wer in Deutschland für soziale Sicherung zahlt – und aus welchem Topf. Die Entscheidung darüber liegt nun bei den Gerichten.