Di, 04.07.2023 , 15:48 Uhr

Soziologe: AfD definiert die soziale Frage um

Sachsen- Laut Klaus Dörre, einem Soziologen aus Jena, profitiert die AfD in den östlichen Bundesländern von einem weitverbreiteten Gefühl der Entwertung vieler Menschen.

Dörre erklärte gegenüber dem "Spiegel", dass sich diese Menschen in dreifacher Hinsicht abgewertet und missachtet fühlen: als Arbeiter, als "Ossi" und mittlerweile auch als Männer. Die AfD bedient dabei das Bedürfnis nach Anerkennung, indem sie diejenigen, die sich rechtsradikal äußern, als Deutsche, Patrioten und Mitglieder einer Volksgemeinschaft aufwertet, anstatt als Angehörige einer bestimmten sozialen Klasse.

Die AfD verändert dabei die Definition der sozialen Frage. Sie stellt sie nicht mehr als Konflikt zwischen den unteren und oberen Schichten, zwischen Arbeit und Kapital dar, sondern als einen Konflikt zwischen Innen und Außen. Laut dieser Erzählung beanspruchen die "Eindringlinge" - Geflüchtete und andere Migranten - das Vermögen unseres Volkes und müssen deshalb ausgewiesen werden, erklärte der Experte.

Die AfD konnte in Umfragen zuletzt große Erfolge verbuchen, und die Auswirkungen sind bereits sichtbar: Robert Sesselmann, ein AfD-Politiker, wurde im südthüringischen Landkreis Sonneberg zum ersten AfD-Landrat Deutschlands gewählt, und in Raguhn-Jeßnitz in Sachsen-Anhalt wurde ein AfD-Politiker zum hauptamtlichen Bürgermeister gewählt. In Thüringen wird die AfD vom Landesverfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft und überwacht.

Dörre sagte dem "Spiegel", dass Gewerkschaften vor einem wahren Dilemma im Umgang mit der AfD stehen. Einige Gewerkschaftsmitglieder vertreten rechtspopulistische Ansichten und fordern politische Neutralität von den Gewerkschaften. Dabei gehört der antifaschistische Grundkonsens praktisch zur DNA der Gewerkschaften, so Dörre. Wenn die Gewerkschaften diesen Forderungen rechter Funktionäre nachkommen würden, würden sie in eine tiefe Krise geraten und viele Linke sowie Mitglieder mit Migrationshintergrund, die immer noch ihre aktivsten Kerngruppen sind, würden austreten.

Gleichzeitig sind die Gewerkschaften im Osten schwächer als im Westen. Wenn sie kompromisslos gegen ihre rechtsgesinnten Funktionsträger in den Betrieben vorgehen würden, würden sie den Rückhalt in der Belegschaft vollständig verlieren, da diese Funktionsträger oft ein hohes Ansehen genießen. Dadurch würden die Gewerkschaften noch schwächer, argumentiert Dörre.

Er spricht sich dafür aus, die berechtigten Gefühle der Entwertung anzuerkennen. Die Tarifkämpfe im öffentlichen Dienst, bei der Post und nun bei der Bahn zeigen, dass Gewerkschaften das Selbstwertgefühl der Arbeiter stärken können. Sie sollten ermutigen, sich als Kollektiv zu organisieren und Erfolge zu erzielen. Solche Erfahrungen sind von großer Bedeutung, so Dörre. (dpa)

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